Das Buch „Gekränkte Freiheit“ von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwei ist aus meiner Sicht trotz seiner linksliberalen Grundhaltung durchaus lesenswert, weil es einen der wenigen Versuche des polit-medialen Mainstreams darstellt, sich argumentativ mit der Systemopposition auseinanderzusetzen. Der kritische Leser wird sich zwar über manches arg Tendenziöse ärgern, aber es immerhin als positiv verbuchen, dass die von den Autoren verwendete Methodik soziologischer Interviews die befragten Oppositionellen zu Wort kommen lässt, anstatt ihnen sinnbildlich die Worte im Mund zu verdrehen.

Eine zentrale These der Autoren besteht darin, dass in der „neoliberalen“ Wettbewerbsgesellschaft eine Vorstellung von Freiheit entstanden sei, welcher die notwendige soziale Einbettung fehle. Daraus resultieren – aus der Perspektive der Autoren gesehen – schädliche Verhaltensweisen wie Ablehnung der Corona-Regeln oder des Klimaschutzes. Ich halte diese Argumentation nicht grundsätzlich für falsch. „Demokratie“ bedeutet weder schrankenlose Freiheit des einzelnen noch die Erfüllung aller individuellen Wünsche, sondern ist immer mit der Forderung verbunden, dass sich das Staatsvolk in seinem gemeinsamen Interesse selbst Lasten auferlegen muss. “No taxation without representation” bedeutete schon zur Zeit der Boston Tea Party (1773) nicht Abschaffung der Steuern, sondern ihre Verwendung im Sinne der Steuerzahler. Allerdings wird ein Leser mit gewissen Kenntnissen des politischen Konservatismus sehr leicht merken, wo bei Amlinger und Nachtwei der sprichwörtliche Hase im Pfeffer liegt.

Sittenkodizes als Limitation von Freiheit

Eine Sozialbindung von Freiheit ist selbstverständlich notwendig, damit das gesellschaftliche Leben nicht zu einem ruinösen Kampf aller gegen alle wird, wie ihn der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) gleichsam als Urzustand der Gesellschaft vor der „Erfindung“ des Staates beschrieb. Diese Sozialbindung ist aber – und das ist der Denkfehler von Amlinger und Nachtwei – nicht automatisch in der „Gesellschaft“ vorhanden, sondern entsteht erst durch die Präsenz organisch gewachsener Gemeinschaften. Diese besitzen einen Sittenkodex, der einem falschen Verständnis von Freiheit dadurch entgegentritt, dass er festlegt, was „man“ nicht tut, weil es im Sinne der Gemeinschaft unanständig ist. Auf der Ebene des Staates ist diese Gemeinschaft nichts anderes als das Volk, im politischen Sinne die Nation.

Genau diese Begriffe werden jedoch von der herrschenden liberalen Ideologie als inhaltlich leer, wenn nicht sogar als staatsfeindlich angesehen. Da aber auf die Vorstellung eine staatlichen Gemeinschaft in der Praxis nicht verzichtet werden kann, tritt an die Stelle des Volkes die Phrase von einem „Wir“. „Wir“ sollen das Corona-Virus bekämpfen, das Ökosystem Erde vor dem Klimakollaps bewahren, die Ukraine selbst um den Preis eines möglichen Atomkrieges militärisch unterstützen und nicht zuletzt eine unbegrenzte Zahl von Flüchtlingen aus aller Welt in unserem Land aufnehmen. Besonders an dem letzten Punkt zeigt sich die Sinnlosigkeit solcher Appelle. Bei der Aufnahme Fremder könnte dieses „Wir“ eigentlich nur als gewachsene Gemeinschaft der Alteingesessenen, eben als „Volk“, verstanden werden. Genau diese Sichtweise wird aber von den Regierenden verteufelt. In der Realität lässt sich somit dieses „Wir“ nicht fassen, und vor allem besitzt dieses „Wir“ nicht die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob es sich die genannten Zielsetzungen wirklich zu eigen machen will oder nicht.

Demokratie besteht großteils aus Machtbegrenzung

Damit führt die genannte These von Amlinger und Nachtwei aber auf ein viel tiefer gehendes Problem, das den Autoren selbst höchstwahrscheinlich gar nicht bewusst ist. Hat der vorgebliche gesellschaftliche Fortschritt im Namen des Liberalismus vielleicht den Begriff „Demokratie“ gegenstandslos gemacht, weil an irgendeinem Punkt der Entwicklung der demos, das selbstbestimmte Staatsvolk der Demokratie, einfach lautlos verschwunden ist? Zur Beantwortung dieser Frage diskutiere ich zuerst eine weitere These aus dem Buch von Amlinger und Nachtwei. Die Autoren behaupten nämlich, dass in unserer hochkomplexen Gesellschaft ein bedingungsloses Vertrauen in „Experten“ unerlässlich sei. Mit dieser Behauptung rechtfertigen sie ihre Forderung nach einer unkritischen Akzeptanz der Corona-Maßnahmen. Dasselbe Argumentationsmuster lässt sich auch auf andere Themenfelder übertragen, insbesondere die „Klimapolitik“. Auch bei dieser These scheint den Autoren die Tragweite ihrer eigenen Idee nicht wirklich bewusst zu sein. Wer blinden Gehorsam fordern kann, besitzt – zumindest auf einem Teilgebiet – eine praktisch unbeschränkte Macht.

Demokratie besteht aber zu einem großen Teil in Machtbegrenzung und Machtkontrolle. Dies geschieht zum einen durch die Gewaltenteilung, zum anderen durch die Möglichkeit, mittels Wahlen unfähige oder antidemokratisch agierende Amtsträger aus ihren Positionen zu entfernen. Für „Expertokraten“ gilt dies offenbar nicht mehr. Es gibt nicht einmal ein transparentes Verfahren dafür, ihre Expertise zu begründen. Ein solcher Expertokrat kann sich sogar auf relativ einfache Weise zum Diktator aufschwingen. Dazu muss er nur die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass sein eigenes Fachgebiet alle anderen Themen weit an Bedeutung überragt. Dies ist alles andere als graue Theorie, denn zumindest in der Anfangsphase der Corona-Krise haben wir alle solche Experten-Diktatoren live erlebt, nämlich in Gestalt von Christian Drosten, Anthony Fauci und anderen „führenden Virologen“, die unversehens nicht nur die politische Richtlinienkompetenz in ihren Ländern übernahmen, sondern auch das Alltagsverhalten der Menschen bis ins Detail bestimmten.

Expertokratie und “Verschwörung”

Über diese Problematik hat sich in jüngerer Zeit auch ein anderer “mainstreamkompatibler” Autor Gedanken gemacht, nämlich der US-Amerikaner George Friedman in seinem Buch „Der Sturm vor der Ruhe“. Dort analysiert er eingehend den gegenwärtigen Zustand der USA und leitet aus ihrer Geschichte eine Prognose für die nächsten Jahrzehnte ab. Friedman spricht zwar von „Technokratie“ statt von „Expertokratie“, sieht das Problem aber ähnlich. Seiner Meinung nach hat eine übermäßige Verrechtlichung zusammen mit einer gewaltigen Aufblähung von Behörden einen Zustand erzeugt, in dem Regierungshandeln weder nachvollziehbar noch demokratisch kontrollierbar geworden ist. Als Beispiel nennt er Gesetzesvorlagen mit einem Umfang von tausenden Druckseiten, zu denen sich offensichtlich kein Abgeordneter mehr eine Meinung bilden kann und erst recht kein Wähler. Auf diese Weise bestimmen ungreifbare Technokraten die Politik völlig.

Friedman kommt zu dem provokanten Schluss, dass „in den 2020er Jahren das Bild der (US-amerikanischen) Bundesregierung eine absichtliche Verschwörung zur einzigen kohärenten Erklärung für ihr Versagen“ machen wird. Das englische Original von Friedmans Werk erschien im Jahre 2020, der Text wurde also noch „vor Corona“ verfasst. Hier wird also ein „verschwörungstheoretisches“ Politikverständnis durch einen Mainstream-Autor gerechtfertigt, auch wenn die Verschwörung dabei eine andere Form annimmt als in der Vorstellung vieler Systemoppositioneller. Es wirken keine geheimen Zirkel von Bösewichten, sondern anonyme Apparate von „Experten“, die sich durch ihr – zumindest auf Teilgebieten – überlegenes Wissen jeglicher demokratischer Kontrolle entziehen können. Ein besserer Ausdruck dafür wäre „tiefer Staat“. Dieser existiert offenbar keineswegs nur in der Phantasie von Anhängern der QAnon-Bewegung.

Einander blockierende Institutionen

Nach dem bisher Gesagten stellt sich zwingend die Frage, ob Demokratie unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts nicht zu einer Illusion werden muss. Das offenbare Verschwinden von Staatsvölkern zugunsten bindungsloser Individuen und eine von gewählten Politikern nicht mehr steuerbare Überkomplexität der Probleme sprechen leider für diese These. Viele Systemoppositionelle haben dieses Problem immerhin insoweit längst erkannt, als dass sie das Fehlen von einer als wirkliche Selbstbestimmung des Volkes verstandenen Demokratie lauthals beklagen. Der Mainstream antwortet darauf, indem er diese Kritiker als „Demokratiefeinde“ denunziert, weil sie die Zustimmung zu einem politischen System verweigern, das zwar äußerlich immer noch demokratisch erscheint, aber in der Praxis nur eine formale Legitimation einer „alternativlosen“, von „Experten“ diktierten Politik durch eine Bevölkerung verlangt, die in diesem Zustand nicht mehr als demokratisches Staatsvolk angesehen werden kann und offenbar auch nicht mehr soll. In Wirklichkeit herrscht eine Art Neofeudalismus, in dem Funktionseliten die Rolle der einstigen Fürsten spielen.

Man befindet sich hier also in einem äußerst schwierigen Dilemma: Einerseits gibt der Mainstream fast schon offen zu, dass Demokratie unter den hyperkomplexen Verhältnissen des 21. Jahrhunderts keine angemessene Staatsform mehr sein kann. Gerade Angela Merkel hat kaum einen Hehl aus ihrer Ansicht gemacht, dass die autoritäre Volksrepublik China die Probleme unserer Gegenwart oftmals besser bewältigen kann als die sich gegenseitig blockierenden Institutionen der Bundesrepublik. In der Corona-Krise wurde China tatsächlich zum Vorbild für eine weitgehende Aussetzung von Demokratie und Freiheitsrechten – und die große Mehrheit des deutschen Volkes folgte dieser Politik willig, anstatt für die Werte des Grundgesetzes zu kämpfen. Andererseits beschwört unser polit-medialer Machtkomplex beständig eine „Demokratie“, für welche die Bürger ohne Unterlass einen „Kampf gegen rechts“ führen sollen, obwohl das Parteienspektrum der klassischen Demokratie eigentlich ohne „Rechte” – im Sinne von „Konservativen“ – unvollständig ist. Auch hiermit sind die meisten Bürger einverstanden und nehmen den damit einhergehenden inneren Widerspruch meistens gar nicht wahr.

Autoritäre Staatsordnungen vs. scheiternde Pseudo-Demokratien

Eine Lösung könnte darin bestehen, heute „Demokratie“ als eine ähnliche Leerformel zu erkennen, wie es nach 1990 mit dem Begriff „Sozialismus“ geschah. Statt von „Demokratie“ sollte meiner Meinung nach eher von „innerer und äußerer Selbstbestimmung des Volkes“ gesprochen werden. Damit rede ich nicht einer autoritären Herrschaftsform das Wort. Gerade wenn man die wörtliche Bedeutung von Demokratie als „Volksherrschaft“ bedenkt, wird klar, dass das Volk entweder selbsbst herrschen oder von irgendjemandem beherrscht werden muss. Letzteres kann man kaum wollen. Es ist im 21. Jahrhundert – und das ist der entscheidende Unterschied zum heute oftmals beschworenen Jahr 1923 – auch kaum noch möglich, sich Kommunismus oder Faschismus als ernsthafte Alternativen zu unserem politischen System vorzustellen. Beide Ideologien haben sich im 20. Jahrhundert selbst auf schlimmste Weise diskreditiert. Nur ist eben die liberale Demokratie – anders als man es 1990 noch sah – nicht als strahlender Sieger aus dem Wettbewerb der Systeme hervorgegangen, sondern befindet sich heute in einer existentiellen Krise, die ihren Untergang als nicht unwahrscheinlich erscheinen lässt.

Man könnte, wie schon erwähnt, moderne autoritäre Staatsordnungen wie in Russland und der VR China als Modelle ansehen, die vor allem besser an die Globalisierung angepasst sind als die scheiternden Pseudo-Demokratien des Westens. Hier zeigen sich allerdings gerade in jüngerer Zeit auch gravierende Nachteile. Solche Systeme besitzen eine fatale Neigung zu ruinösen Angriffskriegen (Ukraine und vielleicht bald Taiwan), weil sie kaum auf eine in der Regel friedlich gesinnte öffentliche Meinung Rücksicht nehmen müssen. Ihnen fehlen auch klare Regeln für eine Nachfolge an der Staatsspitze, was in Russland heute schon zu Machtkämpfen zu führen scheint. In der VR China könnte es spätestens dann zu ähnlichen Entwicklungen kommen, wenn eines Tages das Leben des allmächtigen Präsidenten Xi Jinping zu Ende geht.

Identifikation der Repräsentanten mit dem Staatswesen

Eine gangbare Alternative zu unserem scheiternden politischen System müsste meiner Ansicht nach Elemente von Monarchie und Aristokratie reaktivieren, aber natürlich ohne den Zustand vor den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts restaurieren zu wollen. Diese zu Unrecht verachteten Staatsformen haben nämlich den großen Vorteil, dass die Regierenden das Staatswesen gleichsam als ihr Vermögen ansehen und deshalb ein natürliches Interesse daran haben, es zu erhalten und zu vermehren. Genau diese Eigenschaft fehlt unseren heutigen Herrschenden fast völlig, die teilweise offen eine gegen Staat und Volk gerichtete Politik betreiben. Auf einer theoretischen Ebene führt dies zu der Erkenntnis, dass wir mehr Republik als Demokratie brauchen. Beide Begriffe werden umgangssprachlich oftmals gleichgesetzt. „Republik“ meint aber eigentlich Herrschaft durch Repräsentanten anstelle einer direkten Volksherrschaft. Dieser Gegensatz findet sich übrigens bis heute in den Namen der beiden großen US-Parteien, Republikaner und Demokraten, wieder. Von berühmten Gründervätern der USA sind zahlreiche Aussagen überliefert, in denen in diesem Sinne „Demokratie“ vehement abgelehnt wird.

Die Repräsentanten müssen die Eigenschaft besitzen, sich als eine Art „Wahladel“ wirklich mit dem Staatswesen und den Interessen des gesamten Staatsvolkes zu identifizieren. Tatsächliche Machtkontrolle durch das Volk in Gestalt von Personenwahlen anstelle der heutigen Parteiendemokratie ist hierfür eine unabdingbare Voraussetzung. Eine weitere ist ein Bildungswesen, das Persönlichkeiten hervorbringt, welche den genannten Voraussetzungen tatsächlich genügen können. Hier liegt heute vieles im Argen, aber an dieser Stelle befindet sich offenbar auch ein mächtiger Hebel zur Lösung der gegenwärtigen Problemlage. Eine bessere Bildung müsste Allgemeinwissen und gesunden Menschenverstand fördern und so Menschen dazu in die Lage versetzen, das – ohne Zweifel auch weiterhin sinnvolle und notwendige – Wissen von Experten in größere Zusammenhänge einzuordnen. Ich habe mich als Amateur auf den Feldern der Publizistik und der politischen Theorie oftmals selbst gefragt, warum meine Tätigkeit überhaupt gebraucht wird, wenn es doch zigtausende Studierte auf diesen Gebieten gibt. Die Antwort ist leider, dass sich diese Gelehrten meistens im Stadium eines vollendeten „Fachidiotentums“ befinden und deshalb in der heutigen Krisensituation keine wegweisenden Gedanken entwickeln können.

Wir brauchen einen starken Staat

Kurzsichtig, wenn auch leider verlockend, wäre die Vorstellung, dass man die Problemlage radikal vereinfachen könnte, indem ein „starker Mann“ endlich den „Saustall“ ausmistet. Mit einem solchen Ansatz würde man aber in eine gefährliche Unterkomplexität verfallen, die unserer Situation nicht gerecht werden kann. Dieser Vorwurf muss leider auch an eine Ikone der Gegenöffentlichkeit wie Donald Trump gerichtet werden. Es war und ist zwar aus meiner Sicht vieles an seiner Politik gut, aber er wirkte allzu oft wie ein Fernsehzuschauer, der Ereignisse aus einer subjektiven Perspektive kommentierte, die er eigentlich als Präsident selbst hätte gestalten müssen. Zudem beging er in der Corona-Krise einen fatalen Fehler, der sein Bild in der Geschichte sehr wahrscheinlich stärker verdunkeln wird als alle fragwürdigen Prozesse. Trump trägt ohne Zweifel die politische Schuld an der übereilten Entwicklung und Einführung der „Corona-Impfstoffe“, deren katastrophale Folgewirkungen die Welt noch lange beschäftigen werden.

Eine ebenfalls verlockende, aus meiner Sicht aber trotzdem falsche Idee ist die libertäre Vorstellung einer weitgehenden Freiheit des Einzelnen vom Staat. Wer so denkt, verkennt im besseren Falle völlig, wie sehr wir in der heutigen Welt einen starken Staat brauchen. Im schlechteren Falle ist er ein Vertreter einer äußerst negativen Spielart des Populismus, welcher der Wunsch zugrunde liegt, alles vom Staat zu bekommen, ohne ihm etwas dafür zu geben. Selbstverständlich ist die eingangs gestellte Frage nach der Zukunft der Demokratie im 21. Jahrhundert viel zu komplex, als dass hier eine vollständige Antwort möglich wäre. Es ist aber hochgradig wichtig, dass diese Problematik zumindest innerhalb der Opposition offen diskutiert wird, ohne sich dabei von falschen Extremismusvorwürfen des Mainstreams bremsen zu lassen. Wenn dieser Artikel als Beitrag zu einer solchen Diskussion aufgefasst wird, dann hat er sein Ziel erreicht.