Quelle: https://www.t-online.de/nachrichten/tagesanbruch/id_100145600/deutschland-dieser-nackten-wahrheit-muessen-wir-uns-stellen.html

Denn überall gibt es Schwimmbäder. Oder öffentliche Orte, an denen Menschen sich im kühlen Nass erfrischen. Dort gibt es ungeschriebene Gesetze. Zum Beispiel, dass es sich gehört, seinen Müll einzusammeln und zu entsorgen. Aber es gibt auch festgeschriebene Regeln. Jedes Schwimmbad hat eine Hausordnung – und in dieser steht oft eine Passage, die nun vielerorts zu wackeln scheint.

Diese Passage liest sich zum Beispiel so wie hier bei den Berliner Bäderbetrieben: «In den Schwimmbädern ist von allen Badegästen handelsübliche Badekleidung zu tragen wie z.B. Badehose, Badeshorts, Bikini, Badeanzug, Burkini.»

Was dort nicht explizit steht, aber für Frauen bedeutet: Zu einem handelsüblichen Bikini gehört auch ein Oberteil. Sie sollen also ihre Brüste bedecken. Während Männer mit einfacher Badehose planschen dürfen, oberkörperfrei versteht sich, galt es jahrzehntelang offenbar als gesellschaftlicher Konsens, dass Frauen das nicht dürfen.

Da fragt man(n) sich ja schon: warum eigentlich? Warum dürfen wir Männer etwas, was Frauen verwehrt wird? Es ist akzeptiert, zusammen nackt in der Sauna zu schwitzen, oberkörperfrei auf einer Liege in der Sonne zu braten, aber kaum geht es in den Schwimmbereich, muss die Frau sich schleunigst ein Bikinioberteil überstreifen.

Diese logische Inkonsistenz bröckelt. In Städten wie Göttingen, Siegen, Hannover und eben Berlin, Hamburg und Köln ist es erlaubt oder wird es bald erlaubt sein, auch als Frau oben ohne ins Hallenbad und Freibad zu gehen. In den Kölner Bädern soll die neue Regelung ab dem 1. April in Kraft treten. Man habe sich wegen der bundesweiten Oben-ohne-Diskussion der vergangenen Jahre dafür entschieden, begründete eine Sprecherin der Bäder den Schritt.

Tatsächlich gab es zuletzt einige Fälle, die das Thema in die Schlagzeilen gespült haben. Unter anderem in Göttingen wurde eine Frau ohne Oberbekleidung eines Schwimmbads verwiesen. Daraufhin gab es Shitstorms im Internet, Klagen und Initiativen, die sich mit dem Thema beschäftigten. Lotte Mies aus Berlin hat Ähnliches im Dezember 2022 erlebt. Sie wollte in einem Hallenbad in Berlin-Kaulsdorf nur mit Badehose bekleidet schwimmen gehen – und wurde rausgeworfen.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Daraus soll(te) kein neues Dogma abgeleitet werden. Wenn Frauen lieber mit Bikinioberteil baden gehen, ist das völlig in Ordnung. Aber wenn sie sich ohne wohler fühlen, warum sollen sie dann gezwungen werden, sich zu bedecken? Eine weibliche Brust ist doch kein öffentliches Ärgernis, keine Provokation oder anstößig. Sie sollte genauso gezeigt werden dürfen, wie es bei ihrem männlichen Pendant der Fall ist.

Für mich ist das eine Frage der Gleichberechtigung. Frauen sollen genau die gleiche Freiheit genießen dürfen wie Männer auch. Insofern ist die Bewegung in den Bädern der Republik als Reaktion auf die gesellschaftlichen Entwicklungen nur folgerichtig. Denn wessen Freiheit soll dadurch eingeschränkt werden, dass Frauen mit nacktem Oberkörper ins Wasser springen?

Womit wir bei der nackten Wahrheit wären: Zieht sich eine Frau aus, drehen sich noch heute viele Köpfe um, beginnt das Starren und Glotzen. Die weibliche Brust gilt immer noch als sexuelles Objekt der Begierde, sie zieht die Blicke auf sich. Es liegt also auch an uns Männern, die Brust zu entsexualisieren, diese gesellschaftliche Entwicklung aktiv mitzugestalten.

Denn bei aller Fixierung auf die Bekleidung in Badeanstalten geht es doch um so viel mehr als nur um ein sekundäres Geschlechtsorgan. Es geht um Toleranz und darum, Frauen auch im alltäglichen Zusammensein die gleichen Rechte einzuräumen. Und was ist mit Menschen, die sich als Männer definieren, aber nicht wie welche aussehen? Diese müssten sich verhüllen. Das ist nicht zeitgemäß, das grenzt an Diskriminierung.

Lotte Mies zum Beispiel hat sich erfolgreich für das Oben-ohne-Baden in Berliner Schwimmhallen eingesetzt und wird jetzt dafür angefeindet. Sie berichtet sogar von Mord- und Missbrauchsandrohungen. Das passiert hier bei uns. In Deutschland. Im Jahr 2023. Diese aggressive Intoleranz dürfen wir als Gesellschaft nicht zulassen.