In Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ wird eindrucksvoll erzählt, wie in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg jahrelange Aufenthalte in einem Lungensanatorium die Patienten dieser Einrichtung zunehmend in ungesunde Geisteszustände versetzen. Zwei der letzten Kapitel dieses Buches tragen die Überschriften „Die große Gereiztheit“ und „Der große Stumpfsinn“. Sie beschreiben unter anderem spiritistische Sitzungen, vergebliche mathematische Bemühungen um eine Quadratur des Kreises, aber vor allem die Eskalation endloser theoretisch-weltanschaulicher Diskussionen zu einem Pistolenduell, das mit dem Selbstmord eines der Beteiligten endet. Diese explosive Mischung aus Stumpfsinn und Gereiztheit erscheint mir als eine treffende Kennzeichnung für die gegenwärtige politische Lage in Deutschland.

Beginnen wir mit der Gereiztheit. Sie ist auf praktisch allen Seiten politischer Auseinandersetzungen sichtbar präsent, besonders aber bei demjenigen Akteur, der diese Auseinandersetzungen eigentlich befrieden müsste, nämlich der Staatsmacht selbst. Ihren Ausdruck findet diese Gereiztheit im kompromisslosen Beharren auf Extrempositionen, einem damit einhergehenden Hass auf den politischen Gegner und einer daraus resultierenden völligen Dialogunfähigkeit. Die Jahre der Corona-Krise haben für diese destruktive Form politischer Auseinandersetzungen gleichsam die Blaupause geliefert. Die eine Seite stellte dabei die Gefährlichkeit oder gar die Existenz des Virus generell infrage. Für die Gegenseite folgte hingegen aus der Anerkennung einer allgemeinen Gesundheitsgefahr die Forderung nach einer kritiklosen Akzeptanz aller gegen diese Gefahr ergriffenen Maßnahmen. Die Staatsmacht deeskalierte diesen Konflikt nicht, sondern schürte Panik und griff zu verfassungsrechtlich äußerst bedenklichen Mitteln, womit – gewollt oder nicht – letzten Endes die Staatsordnung des Grundgesetzes selbst infrage gestellt wurde.

Ungenutzte Stärke der Demokratie

Der vielleicht größte Vorteil der Demokratie wurde nicht genutzt und sogar für gefährlich erklärt. Er besteht darin, dass ein ergebnisoffener, pluralistischer Meinungsstreit meistens die bestmögliche Lösung hervorbringt. Stattdessen regierten, wie in einer Diktatur, ideologische Dogmen, denen sich selbst eine eigentlich politisch neutrale Wissenschaft unterwerfen musste. Die fast unvermeidliche Konsequenz daraus sind Folgeschäden, die erst langsam sichtbar werden, aber langfristig sehr wahrscheinlich die Opferzahlen von Covid in den Schatten stellen werden.

Man könnte vieles davon mit der Begründung entschuldigen, dass es sich bei der Corona-Krise um ein vorher nie dagewesenes Phänomen handelte. Für einen solchen Akt der Verzeihung wäre es allerdings notwendig, dass Fehler offen eingestanden und rechtswidrige Strafen korrigiert werden. Vor allem müsste das Grundgesetz so geändert werden, dass es zukünftig die Anwendung von Maßnahmen des Infektionsschutzes auf Gesunde eindeutig verbietet. Von solchen Konsequenzen ist bislang nichts zu sehen. Eine spezifisch bundesdeutsche Ursache für diese mangelnde Fehlerkorrektur besteht darin, dass die Staatsmacht schon in der Anfangsphase der Corona-Krise den Kampf gegen die “Pandemie” ohne einen wirklichen Grund mit dem „Kampf gegen rechts“ identifizierte, und damit jegliches Eingeständnis von Fehlhandlungen heute den Rechtsextremismus stärken müsste. Diese Erkenntnis führt fast automatisch zu der These, dass „Corona“ keine Ausnahmeerscheinung war, sondern vielmehr das Vorbild für eine neue, falsche politische Normalität. Einige Beispiele dafür sollen im Folgenden angeführt werden.

Unversöhnlicher Antagonismus zweier Ideologien

In der Klimadebatte folgt für Extremisten wie die „Klima-Kleber“ aus einer panischen Angst vor dem Zusammenbruch der Biosphäre die unbedingte Notwendigkeit eines ökonomischen und damit auch gesellschaftlichen Selbstmordes. Die „grünen“ Regierungspolitiker gehen zwar nicht ganz so weit, aber sie leiten – ganz ähnlich wie bei „Corona“ – aus einer Gefahrenlage die Forderung nach einer kritiklosen Akzeptanz aller Gegenmaßnahmen ab, selbst wenn diese Maßnahmen erkennbar nichts zur Problemlösung beitragen oder auf Ideen basieren, die simplen Naturgesetzen widersprechen. Auf der Gegenseite setzt sich aber immer mehr die Überzeugung durch, dass eine durch menschliches Wirtschaften verursachte Erderwärmung schlichtweg nicht existiere. Das ist genauso falsch, denn der zugrunde liegende Mechanismus – die Re-Absorption von der Erdoberfläche ausgehender Wärmestrahlung durch atmosphärische Spurengase wie Kohlendioxid und Methan, deren Konzentration im Industriezeitalter deutlich zugenommen hat – kann physikalisch nicht bestritten werden.

Auch gibt es hier – im Gegensatz zu „Corona“ – keine kognitive Dissonanz zwischen polit-medialer Panik und einer gleichzeitig im Alltag kaum wahrnehmbaren Gefährdung. Dass es in den letzten Jahrzehnte eine spürbare Erwärmung gegeben hat, wird jeder schon etwas ältere Zeitgenosse aus eigener Erfahrung bestätigen können. Offen bleibt lediglich die Frage, wie das Verhältnis des vom menschlichen Wirtschaften verursachten Anteils an dieser Erwärmung zu natürlichen Klimaschwankungen wie den Eiszeiten ist. Eigentlich sollte die Naturwissenschaft hier durch ergebnisoffene Forschung eine bessere Faktengrundlage schaffen, während gleichzeitig über sinnvolle und sozialverträgliche Mittel zur Reduktion nicht nur der Spurengase, sondern auch des gesamten Energieumsatzes diskutiert werden müsste. Stattdessen stehen sich zwei Ideologien unversöhnlich gegenüber, und wie schon bei „Corona“ steht die Staatsgewalt starr auf einer Seite, anstatt eine pluralistische Diskussion zu fördern und zu moderieren.

Keine ergebnisoffene Diskussion

Dasselbe Muster sehen wir beim Thema Migration. Die Bundesregierung macht sich hier ohne Rücksicht auf ihre Pflicht zur Erhaltung innerstaatlicher Stabilität die linksextremistische Parole “No nations – no borders” zu eigen. Als Reaktion auf diesen Realitätsverlust und die daraus resultierenden praktischen Probleme entsteht aber ein gefährliches Abgleiten in generelle Fremdenfeindlichkeit. Von Migranten begangene Verbrechen werden im Kontext eines imaginären Krieges gesehen, den „die anderen“ gegen „uns Deutsche“ führen. Eine unmenschliche Festung Europa wird gefordert, die Flüchtlinge zwecks Wahrung unseres Wohlstandes am besten im Mittelmeer ertrinken lassen soll. Schließlich verbreitet sich immer mehr die Idee, dass nur eine zwangsweise ethno-kulturelle Homogenisierung der Bevölkerung die Souveränität des deutschen Volkes wiederherstellen könne, die in Wirklichkeit aus ganz anderen Gründen infrage steht. An sich wäre es sehr einfach, diese Auseinandersetzungen zu befrieden. Man müsste nur ergebnisoffen darüber diskutieren können, wie viele Migranten Deutschland aufnehmen kann und soll, und vor allem, wer eine Berechtigung zur Einwanderung besitzt und wer nicht. Die fast absolute Dominanz von Ideologie auf beiden Seiten macht eine solche Diskussion unmöglich.

Der nächste Punkt ist die deutsche Haltung zum Ukraine-Konflikt. Die Staatsmacht vertritt hier – gestützt auf eine breite, aber in sich höchst widersprüchliche gesellschaftliche Koalition – eine kompromisslose Unterstützung für die NATO und die Ukraine, und sie verbindet dies offen mit der Forderung nach einem Sieg über den Aggressor Russland, dem mindestens die Installation einer prowestlichen Regierung in Moskau folgen müsse. Dagegen steht in Teilen der Opposition eine ebenso extreme Position, die Wladimir Putins Vorgehen kritiklos billigt und ihn sogar als Vorbild und Befreier für Westeuropa sieht. Dabei wird verdrängt, dass wir den Zustand (sowjet-)russischen Vorherrschaft in einem Teil Deutschlands und Europas von 1945 bis 1990 schon einmal erlebt haben, und dass dieser Zustand für die Beherrschten keineswegs angenehm war. Es würde zu weit führen, hier eine Lösung des Ukraine-Problems skizzieren zu wollen, aber eine bessere, weniger ideologische Politik müsste zunächst einige Realitäten vorbehaltlos anerkennen.

Weder Sieg noch Niederlage

Weder Russland noch die Ukraine sind westlich und demokratisch, sondern werden von Regimen beherrscht, die nichts anderes erzwingen als einen sinnlosen, massenhaften Opfertod für höchst fragwürdige politische Ziele. Weiterhin muss leider anerkannt werden, dass ein Krieg nicht durch noch so hehre völkerrechtliche Prinzipien entschieden wird, sondern allein durch die militärischen Kräfteverhältnisse. Hier scheint es aber so zu sein, dass – wie Ulrich Teusch jüngst im „Multipolar-Magazin“ schrieb – beide Seiten nicht mehr siegen, aber auch keine Niederlage akzeptieren können. Wenn aber – ebenfalls auf beiden Seiten – im Hintergrund Nuklearwaffen verfügbar sind, definiert diese Schlussfolgerung einen extrem gefährlichen Zustand, der uns Deutschen jedes Recht dazu gibt, zu allererst an unser eigenes Überleben zu denken. Kriegsgeschrei von der Zuschauertribüne und eine ständig wachsende Bereitschaft zur Eskalation sind in dieser Situation die schlechtesten aller Handlungsmaximen.

Anstatt hier noch weitere Themenfelder zu besprechen, sei darauf hingewiesen, dass sich das beschriebene Muster von unversöhnlichen ideologischen Extrempositionen auch auf politische Grundhaltungen bezieht. “Linke“ und „Rechte“ können sich nur noch als Kommunisten beziehungsweise Nazis beschimpfen, und an die Stelle politischer Diskussionen tritt verbale und teilweise auch schon physische Gewalt. Dass diese Auseinandersetzungen zunehmend in Gestalt „politischer Kriminalität“ vor Gericht enden, ist ein sehr schlechtes Zeichen. In einer Demokratie sind solche Delikte normalerweise äußerst selten, weil schlichtweg keine Anlässe für sie existieren. Man muss der Vollständigkeit halber neben Linken und Rechten auch Liberale/Libertäre, „Grüne“ und Islamisten erwähnen, die sich aber leider kaum anders verhalten. Ich habe lange Zeit daran geglaubt, dass sich irgendwann die Vernünftigen aller dieser Lager zusammentun könnten, um – gestützt auf eine durch freie Medien wiedererkämpften realistischen Sicht auf die Faktenlage – gemeinsam nach Lösungen für die Krisen unserer Gegenwart zu suchen.

Querfront als Chance

Diesen Gedanken hat jüngst Manfred Kleine-Hartlage in seinem Buch „Querfront – Die letzte Chance der deutschen Demokratie“ aufgegriffen. Er spricht dort selbst davon, dass die Chancen für eine solche Entwicklung sehr gering sind, und darin stimme ich ihm zu. Ich selbst glaube nicht mehr daran, und der Hauptgrund dafür ist, dass die „Vernünftigen“ – anders ausgedrückt Nicht-Extremisten – unter den politisch aktiven Menschen in Deutschland inzwischen zu einer verschwindend kleinen Minderheit geworden sind. Kleine-Hartlage hat schon in früheren Büchern eine sehr interessante These aufgestellt. Ihm zufolge verhält sich seit der Ära Merkel die bundesdeutsche Regierung in jeder Krise so, dass die Krisenreaktion geradezu ein Maximum einer Oppositionshaltung erzeugt, die sich nicht auf die Sache beschränkt, sondern sich fundamental gegen das politische System wendet. Das Beispiel des durch die Corona-Politik künstlich erzeugten Rechtsextremismus habe ich schon erwähnt. Es lässt sich mühelos auf andere Themenfelder erweitern. Dahinter könnte eine perfide Strategie einer bewussten Zersetzung unseres Staates im Dienste von globalen Kapitalinteressen und der Großmachtpolitik der USA, der Volksrepublik China oder Russlands stehen. Dies bleibt Spekulation. Was aber tatsächlich jenseits der miteinander verfeindeten politischen Lager in unserem Land existiert, ist eine noch passive Masse, die durch die geschilderten Entwicklungen zunehmend verbittert wird oder sogar schon lange in eine solche Verbitterung verfallen ist.

Damit sind wir beim zweiten der eingangs erwähnten Grundmotive angekommen, nämlich dem Stumpfsinn. Er äußert sich zunächst in einer schleichenden Gewöhnung an ungeheure Gefahren für unser Gemeinwesen: Dritter Weltkrieg, Umweltkatastrophen, Wirtschaftskollaps, Demokratieverlust und bürgerkriegsähnliche Zustände sind nicht mehr sehr weit entfernt und können sich zu einer Multikrise ungeahnten Ausmaßes vereinigen. Eine wirkliche gesellschaftliche Mobilisierung bewirkt dies (noch) nicht. Stumpfsinn zeigt sich auch in irrationalen Welterklärungen und Krisenkulten wie dem Glauben an Reptiloiden, Illuminaten und „Q“. Eine andere Form des Stumpfsinns ist eine erschreckende Teilnahmslosigkeit angesichts ebenso erschreckender Gewalttaten wie anlasslose Messer-Metzeleien und Morden von Kindern an Kindern. Anstelle von falschen Pauschalvorwürfen müsste es hier eigentlich ein Innehalten und dann die Fragestellung geben, was eigentlich mit einer Gesellschaft los ist, in der solche Taten geschehen können.

Reinigendes Gewitter?

Eine denkbare Antwort liegt in einer zunehmenden „Normalität“ manifester psychischer Störungen, womit wir wieder bei dem Begriff „Stumpfsinn“ angekommen wären. Meiner Meinung nach haben fast alle gesellschaftlichen Probleme unserer Tage ihre Ursache in einem Hyperliberalismus, der in den letzten 40 bis 50 Jahren fast alle Restbestände eines gesunden Konservatismus aufgefressen hat, die lange Zeit ein unbedingt notwendiges Gegengewicht zur liberalen Aufklärung gebildet haben: Familie, Geschlechtsidentität, gelebtes Christentum, Nation, Berufsstand, gesicherte und soziale Arbeitsverhältnisse, regionale Heimat, Nachbarschaft, etc. Von all dem ist kaum noch etwas übrig geblieben, und wer noch an kümmerlichen Resten dieser Werte festhält, gilt inzwischen als „rechtsextrem“. Die Verneinung der schieren Existenz einer deutschen Nationalität auf deutschem Boden und die Propagierung von Transsexualität bei Kindern sind sehr wahrscheinlich noch nicht die allerletzten Formen des stetig zunehmenden Stumpfsinnes, aber markieren mit Sicherheit schon den Einstieg in seine letztes, letales Stadium.

In Thomas Manns „Zauberberg“ markieren Stumpfsinn und Gereiztheit zwar die Schlussphase der Erzählung, jedoch nicht ihr eigentliches Ende. Dieses erfolgt durch einen „Donnerschlag“, wie das letzte Kapitel des Buches überschrieben ist. Der Erste Weltkrieg bricht aus und zwingt die „Siebenschläfer“ der dekadent-morbiden, internationalen Patientenschaft des Davoser Lungensanatoriums zurück in die äußere Welt, wo sie allerdings oftmals ein elender Tod auf dem Schlachtfeld erwartet. Eine Analogie dazu könnte sich durchaus auch in unserer Gegenwart ereignen. Dazu wäre ein Ereignis nötig, das die bereits erwähnte passiv-verbitterte Masse unserer Gesellschaft plötzlich zu einer Politisierung zwingt. Solche Ereignisse sind durchaus vorstellbar, aber sie wären sehr wahrscheinlich – genau wie bei Thomas Mann – in ihrer Wirkung katastrophal. Dies gilt auch für ihre Wirkung auf die Masse, die kaum in einer Rückkehr zur Vernunft bestehen würde, sondern eher in einem Umkippen der öffentlichen Meinung zugunsten einer bestimmten Form des religiösen oder politischen Extremismus. Deshalb sollte man sich das reinigende Gewitter mit seinem „Donnerschlag“ auch nicht herbeiwünschen oder es gar durch destabilisierendes Handeln selbst heraufbeschwören wollen. Es wird aber meiner Meinung nach früher oder später auch ohne unser Zutun eintreten. Die Geschichte Deutschlands, Europas und der Welt ist noch nicht zu Ende, und sie wird noch viele Überraschungen bereithalten. Stumpfsinn und Gereiztheit werden nicht das letzte Wort behalten.

Quelle: https://ansage.org/gereiztheit-und-stumpfsinn/