Von Mirjam Lübke

Die Krimi-Reihe um Special-Agent Pendergast von Douglas Preston und Lincoln Child ist mit unheimlichen Fällen reich gesegnet. In einem der Romane spült die Flut über hundert identische blaue Schuhe an einen idyllischen Badestrand – in denen jeweils noch ein menschlicher Fuß steckt. Wenn ich an das Lesen des Buches zurückdenke, ziehe ich unwillkürlich meine eigenen Füße näher an den Körper heran. Die Auflösung des Falles hat es nämlich in sich: In einem nicht ganz offiziellen Militärlabor wurden die berüchtigten MK-Ultra-Experimente fortgesetzt – durch eine drogeninduzierte Psychose löste man bei den unfreiwilligen Probanden eben jene Körperdysphorie aus, unter der auch der im ZDF vorgestellte Lino leidet. Man kennt sie auch als “Alien Hand Syndrome”: Ein Körperteil wird von dem Betroffenen als fremd empfunden und er will es unbedingt loswerden. Das ist durchaus ernstzunehmen – und sehr quälend.

(Screenshot:Twitter)

Es ist eine jener Reportagen, von der man hofft, sie sei ein makabres Fake. Aber nein, auch der “Focus” berichtet darüber. Lino hat im Ausland tatsächlich einen Chirurgen gefunden, der ihm das gesunde Bein amputiert hat – in Deutschland ist so etwas (noch) verboten. Obwohl bekanntlich auch hier darauf hingearbeitet wird, im Rahmen der sogenannten “Selbstbestimmung” Menschen zu noch problemloseren und schnelleren Operationen an ihren Geschlechtsteilen zu verhelfen. Offenbar hat niemand mehr den Mut, denjenigen zu sagen, dass es eine ziemlich irre Idee ist, Eingriffe in den Körper vornehmen zu lassen, die sich nie mehr rückgängig machen lassen. Aus einem an sich psychiatrischen Befund wird heute eine neues identitätspolitische Spielart gemacht.

Auch wenn man den Wunsch des Einzelnen durchaus respektieren muss, sollte doch die Gesellschaft darauf hinwirken, diese Operationen möglichst lange hinauszuzögern, um auf andere Lösungen hinzuarbeiten. Was kommt sonst nämlich als nächstes? Begleitet das ZDF bald eine junge Frau, die sich aus Liebeskummer ganz “bewusst” und “eigenverantwortlich” von der Brücke stürzen will, und nötigt ihr vorher noch ein Interview ab? Ich höre schon den Kommentator aus dem Off: “Vanessa hat eine mutige, selbstbestimmte Entscheidung getroffen. Sie ist ein Vorbild für alle Teenager mit gebrochenem Herzen!

Therapie statt “Respekt” und Applaus

In einer geistig-moralisch und sozial intakten, funktionierenden Gesellschaft hätte man Menschen wie Lino dringend eine Therapie angeraten, um sich mit seinem Bein wieder zu “versöhnen”, statt es zu amputieren. Im Bericht erzählt uns zwar ein Therapeut, so etwas wäre “kaum möglich” – aber ganz ehrlich: Das kann ich mir nicht vorstellen. Es mag in Einzelfällen so sein – aber Psychologen und Psychiater knacken schließlich so manche harte psychische Nuss. Auch wenn es sich in der Therapie so anfühlt, als träte man Ewigkeiten auf der Stelle: Bei vielen Patienten platzt irgendwann der Knoten. Es gibt Rückschläge, aber die machen einem dann nicht mehr so viel Angst. Aber so etwas ist natürlich für beide Seiten mit Anstrengung verbunden. Ist das vielleicht der wahre Grund dafür, warum man Menschen mit dem Bedürfnis zur Selbstverstümmelung heute einfach gewähren lässt – mit dem bequemen Argument der bedingungslosen Privatautonomie? “Lass ihn doch machen, er wird schon sehen, was er davon hat!” Ausgerechnet in diesem Punkt gibt sich der Mainstream, der einem sonst sogar vorschreiben will, welches Kantinenessen man zu mögen hat, liberal. Das macht stutzig. Selbstbestimmung ausgerechnet dann, wenn Menschen sich selbst Schaden zufügen?

Eine Therapie hätte auch Lino helfen können. Ob ambulant oder stationär wäre danach entschieden worden, ob er die Tendenz hatte, sich selbst zu verletzen. Akut können Medikamente helfen, den “Kobold im Kopf” (Lee Baer), der einen reichlich mit dummen Gedanken versorgt, zum Schweigen zu bringen. Zudem gibt es sogenannte “Skills” aus der Trickkiste der Borderliner, die zwar die Erkrankung nicht heilen, aber einem helfen, einen Gedankenkreisel zu unterbrechen. In den Mischphasen meiner eigenen bipolaren Störung war das Notfallköfferchen oft meine Rettung: Der Gedanke an Selbstverletzung endet abrupt, wenn man sich ein paar Chiliflocken in den Mund schiebt. Ja, so einfach geht das, wenn man für sich entschieden hat, bewusst gegen seine Selbstzerstörung zu kämpfen. Diese rabiate Maßnahme verschafft einem zumindest etwas Zeit. Zusätzlich braucht es professionelle Begleitung, die mit dem Patienten gemeinsam die nötigen Hilfestellungen erarbeitet. Nicht alles wirkt bei jedem.

Hilfe muss gewollt werden

Aber man muss sich natürlich auch helfen lassen wollen – und dazu braucht es die Erkenntnis, ohne diese Beschäftigung mit seinen Neurosen und Psychosen im Leben besser zurechtzukommen und sich auf anderes konzentrieren zu können. Eine Therapie ist kein Zuckerschlecken und dauert Monate oder Jahre. Aber aus meiner Erfahrung heraus richten sich manche Betroffene auch häuslich in ihrer Störung ein. Dafür gibt es verständliche Gründe wie das Bedürfnis, dass sich um einen gekümmert wird, weil das bisher keiner ernsthaft getan hat. Allerdings gibt es auch “Spezialisten”, denen ihre Krankheit stets dann einfällt, wenn sie eine Aufgabe übernehmen sollen, auf die sie keine Lust haben. Das habe ich auf dem “zweiten Arbeitsmarkt” beobachten können: Paradiesvögel, die keine Scheu hatten, Arbeiten auf weniger extrovertierte Kollegen abzuwälzen.

Heute nimmt bedauerlicherweise die Tendenz zu, gerade diese Extreme medial zu unterstützen. Dahinter steckt auch eine ordentliche Portion Sensationsgier. Wurden im 19. Jahrhundert noch Touren durch “Irrenhäuser” angeboten, um die Erkrankten einem feixenden Publikum vorzuführen, muss man dafür heute nur den Fernseher einschalten. Und da gibt der Fall Lino natürlich ordentlich etwas her – weit mehr natürlich, als hätte er erfolgreich seine Erkrankung überwunden. Das sind also die Medien, die uns sonst bei jeder Gelegenheit etwas über “Menschenverachtung” erzählen wollen. Bei den eigenen Einschaltquoten hört die Besorgnis dann schon auf.

Quelle: https://ansage.org/gesundes-bein-amputiert-das-zdf-macht-wahnsinn-zur-normalitaet/