Zum Start gibt es einen Ansturm auf das 49-Euro-Ticket. Doch verändert die neue Nahverkehrsflatrate wirklich das Fahrverhalten von Millionen – und hilft dem Klimaschutz? Während ein Forscher eine „Subvention von unten nach oben“ beklagt, erwarten andere einen Boom in bisher vernachlässigten Regionen, außerhalb des engeren Verflechtungsraums der Metropolen.

Berlin. Zuletzt gab es doch einen Ansturm, fast wie vor knapp einem Jahr beim 9-Euro-Ticket: Lange Schlangen vor den Kundenzentren der Nahverkehrsunternehmen, überlastete Websites. Das Deutschlandticket könnte ein Renner werden. Drei Millionen Tickets sind bereits verkauft, 750.000 davon sind neue Abos von Menschen, die bisher keine Monatskarten besaßen. Zwischen fünf und sechs Millionen neue Nahverkehrsnutzerinnen und -nutzer und elf Millionen Wechsler und Wechslerinnen von regionalen Abos erwartet der Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).

Wem aber nützt das Ticket am meisten? Großstadtbewohnerinnen und -bewohner mit lokalen Abos bekommen einen Freifahrtschein für Wochenendausflüge und Städtereisen, die Ersparnis im täglichen Vergleich aber ist überschaubar – wenn nicht der Arbeitgeber den Preis mit Zuschüssen für ein Jobticket weiter drückt.

Größter Klimaeffekt bei den Fernpendlern

Wer aus dem Umland in die Metropolen pendelt, zahlte für ein regionales Abo bisher oft weit jenseits der 100 Euro und spart nun dementsprechend viel. „Den größten Klimaeffekt wird es bei den Pendlerinnen und Pendlern über längere Strecken geben, also die aus Mittelstädten in die Großstädte fahren und diese Strecken bisher mit dem Auto zurückgelegt haben, weil das ÖPNV-Angebot vor allem wegen der Fahrpreise nicht attraktiv genug war“, sagte Felix Creutzig, Leiter der Arbeitsgruppe Landnutzung, Infrastruktur und Transport am Forschungsinstitut MCC in Berlin dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Wenn auf diesen Strecken Autofahrten durch Bahnfahrten ersetzt werden, dann ist das auf jeden Fall ein relevanter Effekt.“

„Es wird finanziell höchst attraktiv, herauszuziehen“

Städte und Gemeinden außerhalb des engeren Verflechtungsraums der Großstädte, aber mit guter Verkehrsanbindung, könnten durch das 49-Euro-Ticket auch Zuzüglerinnen und Zuzügler anziehen, erwartet Creutzig. Er sagte dem RND: „Grundstücke, Immobilienpreise und Mieten sind außerhalb der Großstädte und ihrer Vororte meist deutlich günstiger. Wenn es eine gute Zugverbindung gibt und das 49-Euro-Ticket mit einem Jahrespreis von unter 600 Euro das Pendeln auch über größere Distanzen deutlich günstiger macht, wird es finanziell höchst attraktiv, herauszuziehen.“

Doch geht damit nicht neue Zersiedelung einher – und könnte der mögliche Klimaeffekt des Deutschlandtickets also durch weitere Einfamilienhaussiedlungen und lokalen Autoverkehr konterkariert werden? „Ich sehe das nicht so kritisch“, sagte Creutzig dem RND. „Gesucht werden ja keine neuen Siedlungen auf der grünen Wiese weitab der Verkehrsanbindung, sondern attraktive Bauplätze in den Ortszentren und am besten in Bahnhofsnähe.“ Im besten Fall würden Klein- und Mittelstädte so wiederbelebt, aber es finde keine weitere Zersiedelung statt.

Für die Städte sei das „eine große Chance, auf die sie sich auch ausrichten müssen“, fordert der Forscher. Kommunen müssten Möglichkeiten schaffen für Zuzug in ihre Zentren, damit die Pendler und Pendlerinnen ohne Auto gut zum Bahnhof kommen.

Vorbild: Coworking-Space im alten Bahnhofsgebäude

Einige Kommunen hätten das bereits verstanden. Die 20.000-Einwohner-Stadt Wittenberge in der Prignitz, auf halbem Weg zwischen Hamburg und Berlin gelegen, richtet einen Coworking-Space im alten Bahnhofsgebäude ein. Schließlich wollen viele der Zuzügler nicht jeden Tag an ihre Arbeitsplätze in der Großstadt fahren.

Für die Voraussage einer Klimabilanz des 49-Euro-Nahverkehrsabos sei aber noch zu vieles unklar. Etwa, wie viele Autofahrten durch das Ticket wirklich eingespart werden – und wie viel zusätzlichen Verkehr das neue bundesweite Nahverkehrsabo verursacht, also Fahrten, die sonst gar nicht unternommen worden wären. Von beiden Variablen hängt entscheidend ab, ob das Ticket einen messbaren Einfluss auf den CO₂-Ausstoß in Deutschland haben wird. Creutzig hält die VDV-Schätzung von bis zu fünf oder sechs Millionen neuen Abonnentinnen und Abonnenten für „recht optimistisch“, und für geradezu „sehr wagemutig, anzunehmen, diese fünf Millionen neuen Abonnenten wären alle bisher mit dem Auto gependelt und würden es nun komplett stehenlassen“.

Subvention für wohlhabende Speckgürtelbewohner?

Christian Böttger, Wirtschaftsprofessor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft, hält das Ticket sogar für geradezu schädlich. Er sagte der „Berliner Zeitung“: „Das Deutschlandticket ist eine Subvention von unten nach oben.“ Es verbillige vor allem die bestehenden Nahverkehrsabos von Gutverdienern aus den wohlhabenden Vororten der Metropolen.

Wer von dort mit dem Auto zur Arbeit fahre, werde sich zudem nicht umstellen. „In diesen Kreisen heißt es: Wenn ich nicht direkt im Einzugsbereich eines Schnellbahnhofs wohne, fahre ich lieber mit dem Auto zur Arbeit. Auf jeden Fall nicht mit dem Bus zum Bahnhof“, sagte Böttger der Zeitung. „Auch deshalb schätze ich die Verlagerungseffekte weg vom Auto hin zur Bahn als bestenfalls marginal ein. Wenn sich das Angebot nicht bessert, werden viele weiter Auto fahren.“

Auf dem platten Land werde das Auto unverzichtbar bleiben, sagt auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) „Da muss man ehrlich sein: Natürlich wird der ländliche Raum niemals ein S-Bahn-Netz wie Berlin-Mitte haben“, sagte Habeck beim Talk „RND vor Ort“ in Kiel. Man könne zwar auch dort einiges verbessern, E-Carsharing oder digitalisierte Rufbus-Systeme etwa. „Aber am Ende wird der ländliche Raum auf das individuelle Fahrzeug angewiesen sein.“

Quelle: https://www.rnd.de/politik/deutschlandticket-wem-es-wirklich-nuetzt-4HUEYDCNNVFHXOF22YII7DG3D4.html