Von JÜRGEN RITTER

Nach dem Beginn der „militärischen Sonderoperation“ in der Ukraine schlug die antirussische Hysterie im sogenannten „freien Westen“ hohe Wellen, die auch vor dem Kulturleben nicht Halt machten. Den Auftakt bildete die Absage eines Tschaikowski-Konzerts im walisischen Cardiff am 18. März, dem sich entsprechende Konzertverbote in Berlin, Stettin, Bromberg und anderen Städten anschlossen. Um im Westen auftreten zu dürfen, mussten sich russische Künstler zuerst von ihrem Staatspräsidenten und dessen Politik distanzieren. Eine solch brutale Inquisition hatte es nicht einmal auf dem Höhepunkt des kalten Krieges gegeben.

Vor diesem Hintergrund war die Tatsache, daß die neue Opernsaison an der Mailänder Scala am 7. Dezember 2022 mit einer russischsprachigen Inszenierung von Modest Mussorgskis Meisterwerk „Boris Godunow“ eröffnet wurde, eine scheinbar unerklärliche Anomalität. Noch merkwürdiger wirkte auf den ersten Blick, daß der Aufführung dieser vom Komponisten „musikalisches Volksdrama“ genannten Oper nicht nur der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella, die neue Premierministerin Giorgia Meloni sowie mehrere ihrer Minister beiwohnten, sondern auch die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen. Letztere zählt bekanntlich zu den rabiatesten Verfechtern der von Brüssel betriebenen antirussischen Konfrontationspolitik.

Aber auch die neue Mitte-Rechts-Regierung in Rom, die in wichtigen Fragen wie der Immigrationspolitik von der ultra-globalistischen Politik ihrer Vorgängerregierung abrückt und von den Multikulti-Fanatikern aller europäischen Staaten deshalb heftig befehdet wird, steht bedingungslos hinter dem Regime in Kiew und liefert diesem sogar Waffen. Es ist dies die logische Folge ihrer stramm pro-amerikanischen, transatlantischen Haltung.

Daß diese Politgrößen die Mussorgski-Oper aus reiner Musikbegeisterung besucht haben, mutet höchst unwahrscheinlich an. Wie der russische Politologe Igor Panarin in einem seiner Videos festhielt, lag der Mailand-Reise dieser passionierten Opernfreunde zweifellos eine tiefere Ursache zugrunde, die in Moskau die Alarmglocken läuten lassen müßte.

„In der Politik geschieht nichts zufällig. Wenn etwas geschieht, dann kann man sicher sein, daß es auf diese Weise geplant war“, sagte einst Franklin D. Roosevelt. Er wußte, wovon er sprach.

Wer mit der russischen Geschichte vertraut ist, weiß, daß während der Regierungszeit Boris Godunows, der – nachdem er bereits zuvor viele Jahre lang faktisch die Geschicke seines Landes gelenkt hatte – von 1598 bis zu seinem Tod im Jahre 1605 auf dem Zarenthron saß, die „Smuta“, die Zeit der Wirren, einsetzte, welche erst 1613 mit der Thronbesteigung Michaels I. und der Begründung der Romanow-Dynastie ein Ende nahm.

Während jener Periode herrschte in Russland innenpolitisches Chaos, und das Land wurde zur Zielscheibe fremder Invasionen; rund zwei Jahre lang war Moskau von polnischen Truppen besetzt. Angesichts dieser Umstände sind die „Boris Godunow“-Aufführung in der Scala sowie deren Besuch durch westliche Spitzenpolitiker als klare politische Botschaft zu werten.

Der neue Boris Godunow ist Wladimir Putin; militärische Niederlagen gegen einen äußeren Feind sowie Aufstände im Inneren sollen seine Regierung so nachhaltig erschüttern, daß es zwangsläufig zu einem Systemwechsel kommen muß.

  • Daß Putin während seiner gesamten Regierungszeit den USA und der Nato gegenüber immer wieder tiefgreifende Konzessionen gemacht hat;
  • daß er den Nato-Beitritt der baltischen Staaten fast widerspruchslos akzeptierte;
  • daß er Ende 2014 darauf verzichtete, zumindest den Donbass von der ukrainischen Herrschaft zu befreien, und sich stattdessen auf die Minsker Abkommen einließ;
  • daß er die andauernde Verletzung dieser Abkommen durch die Verantwortlichen in Kiew – zuerst Poroschenko und dann Selensky – sieben Jahre lang zähneknirschend hinnahm;
  • daß er Staaten, die Kiew mit Offensivwaffen versorgen und damit russische Soldaten töten, bis zum heutigen Tage Erdgas, Dünger und andere essentielle Güter liefert …

All das reicht den Machthabern in Washington und London sowie deren Vasallen in Brüssel, Paris und Berlin nicht aus.

Am 23. November 2022 beschloss das Europäische Parlament, Russland wegen seiner „Gräueltaten gegen die ukrainische Bevölkerung“ zum „terroristischen Staat“ zu erklären. In selbstmörderischem Wahn werfen westliche Staaten, die nie ein Wort gegen den US-amerikanisch-britischen Bombenterror gegen Jugoslawien geäußert, sondern sich im Gegenteil daran beteiligt haben, die alle Angriffskriege Washingtons und Londons, von Afghanistan über den Irak bis hin nach Libyen, abgesegnet oder gar an ihnen teilgenommen haben, Russland ohne jede Notwendigkeit den Fehdehandschuh hin.

Was sollen die ständigen Verhandlungsangebote an diese Regierungen? Worüber soll sich Moskau beispielsweise mit einem Scholz oder einer Bärbock unterhalten.

Das einzige, was diese Leute beeindruckt, ist eine Politik der Stärke.

 

Quelle: https://unser-mitteleuropa.com/boris-godunow-in-mailaender-scala-russische-oper-als-traumbild-der-globalisten/